29. Februar 2020 Pazarkule/Evros Tag 1

Es regnet in Strömen. Auf der Fahrt nach Edirne sahen wir mindestens 20 Taxis vorbeifahren, die das Kennzeichen von Istanbul tragen. Am Rand der Autobahn konnten wir kaum Menschen sehen, die zu Fuß zur Grenze gehen. 
Die Polizei blockierte den Zugang zu Karaağaç, dem nächstgelegenen Dorf an der Grenze. Von dort aus gingen die Menschen, die mit Taxis und Bussen kamen, in Gruppen von 5 bis 30 Personen zu Fuß in Richtung Grenze. Einige wenige gingen von der Grenze zurück und sagten, dass sie betrogen wurden; die griechische Polizei warf Gasbomben dort hin.  

Ein Taxifahrer aus Ankara sagte zurückhaltend, dass er Passagiere für 1600 TL (etwa 230 Euro) mitgenommen hatte. Dies ist nicht das einzige Beispiel, wir haben gesehen, wie Menschen ihre Bedürfnisse und Wünsche in eine Interessenbeziehung verwandeln können; von den Menschen, die Wasser verkaufen, bis zu denen, die sagen: “Wir lassen sie passieren, wenn es Fahrgäste gibt”. Andererseits ist es immer noch möglich, mit dem Zug oder Bus zu moderaten Preisen nach Edirne (die Stadt nahe der Grenze) zu reisen. 
Nachdem wir unsere Fahrzeuge an einer Stelle außer Sichtweite gelassen haben, liefen wir 2,5 km zu Fuß. Dieses Gebiet ist für den Verkehr gesperrt. Die Temperatur lag bei etwa -1 C. 
Vom Zentrum von Edirne bis zum Grenztor gibt es 4 Kontrollpunkte von Polizei und Gendarmerie. Aber wir haben keine Identitätskontrolle oder andere Kontrollen für Personen, die zu Fuß in Richtung Grenze gehen, gesehen. 
Als wir uns der Grenze näherten, wurde die Menge immer größer. Als wir merkten, dass der Grenzzaun neben dem Zoll von Pazarkapı durchtrennt wurde, machten wir uns auf den Weg zur anderen Seite der Grenze. Die Menschen in der Menge saßen um die Lagerfeuer, die sie gemacht hatten. So viele Feuer, die nahe beieinander brannten, erschwerten das Atmen und ließen den Bereich unter Rauch stehen, aber die Temperatur stieg auch auf ein erträgliches Maß. Die Menschen waren nass, der Boden war verschlammt. Es war schwierig, im Dunkeln alle Menschen dort zu sehen, wir schätzen, dass es gegen 6 Uhr morgens etwa zweitausend Menschen waren.
Viele junge Leute standen direkt vor den Zäunen, die vor dem griechischen Tor gebaut wurden, und warteten mit Freude und Sorge. Von Zeit zu Zeit riefen sie Parolen und forderten, dass das Grenztor offen sein müsse. In der Zwischenzeit kam auf der Seite Griechenlands die Bereitschaftspolizei aus zwei Bussen heraus und stellte sich in zwei Reihen auf. Nach einer Weile versuchten sie, die Menge durch den Abwurf von Gasbomben zu zerstreuen. 
Wir wurden während der Videodreharbeiten in der Pufferzone angehalten und zu einem kleinen Verhör mitgenommen. Der Militäroffizier, der unsere Identität aufgenommen hatte, sagte, dass die Grenze nur für Geflüchtete offen sei und dass es nicht in Ordnung sei, dass wir uns als TR-Bürger*innen in der Pufferzone aufhalten. 
Obwohl wir mit vielen Syrer*innen sprachen, waren auch viele Menschen aus Afghanistan, Pakistan, Iran und verschiedenen afrikanischen Ländern dabei.
Trotz der vielen Menschenmassen gibt es keine Infrastruktur in der Umgebung. Die Toiletten und die grundlegende Hygiene sind derzeit ein ernstes Problem. Es gibt weder Wasser noch Lebensmittel.  Hunger ist zu einem kritischen Thema geworden.
Nachdem wir ein Gefühl dafür bekommen hatten, wie die Dinge hier funktionieren, gingen wir in die Innenstadt von Edirne, um die notwendigen Dinge zu besorgen. Nachdem wir Flaschengas, Linsen, Brot und andere Küchengeräte besorgt hatten, machten wir eine Pause, um uns ein wenig auszuruhen.         
Auf dem Rückweg in die Zone kamen wir so nahe wie möglich an den Grenzpunkt heran, indem wir zwischen den Feldern hindurchfuhren. Dieses Mal führten Polizei und Gendarmerie lange Verhöre darüber durch, wer wir sind und warum wir hier sind. Als wir offen über unsere Absicht sprachen, wurden wir gewarnt, nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Jetzt konnten wir einen Platz 500 Meter nahe der Grenze vereinbaren.
Nachdem die Leute erkannt hatten, dass in einem der Autos Brotlaibe geladen waren, begann sich eine Menschenmenge um das Auto zu versammeln. Als wir versuchten zu erklären, dass wir Suppe kochen und Brot zusammen mit dieser Suppe verteilen werden, wurden wir zur Rede gestellt: “Vergessen Sie die Suppe, meine Kinder sind hungrig, geben Sie mir das Brot und ich gehe”. 
Wir machten einen weiteren Spaziergang in Richtung Grenze, sprachen mit Menschen und nahmen Stimmen auf. Zwei Iraner*innen, mit denen wir sprachen, suchten nach einem Bus, um nach Istanbul zurückzukehren. Sie beschlossen, noch ein paar Monate zu arbeiten, Geld zu sparen und im Sommer das Meer zu überqueren. Mit dme Enthusiasmus, dort zu sein, beschloss ein anderer, noch einen Tag zu warten und am nächsten Tag nach Istanbul zurückzukehren, wenn sich nichts ändert.
Auf der anderen Straßenseite gab es drei Busse, von denen wir lernten, dass sie zur Direktion für Migrationsmanagement gehören. Wir konnten jedoch nicht herausfinden, warum diese Busse dort warteten.
Die Hoffnung, nach Europa zu fahren, verschwand nach und nach auf Grund des Elends. Viele Menschen verlassen das Gebiet oder bereiten sich darauf vor, das Gebiet zu verlassen, mit der Enttäuschung, die Grenze nicht überqueren zu können, und mit dem Bedauern, das was sie sich bisher in der Türkei aufgebaut haben, ruiniert zu haben.
Dennoch stieg die Zahl der Ankünfte tagsüber stark an. Gegen 17:00 Uhr schätzen wir die Zahl derer, die sich am Grenztor versammelten, auf etwa vier- oder sechstausend. Dies ist eine Schätzung auf der Grundlage dessen, was wir beobachten konnten. Inzwischen sind vielleicht etwa die gleiche Menge an Menschen auf den offenen Feldern in der Grenzregion verteilt.
Andererseits hat die Verkehrspolizei die meisten Autos außerhalb der Grenzzone vertrieben. Wir sind nicht sicher, wie lange wir hier bleiben können.
Obwohl Kochen ein großes Bedürfnis ist, wissen wir nicht, inwieweit wir darauf reagieren können. Wir haben beschlossen, noch etwas zu warten und eine Abendsuppe zu kochen. 
In der gegenwärtigen Ungewissheit ist es nicht möglich, abzuschätzen, wie lange die Menschen hier bleiben werden. Wir bleiben aber trotzdem präsent. Die Frage, ob wir hier weiterhin aktiv sein wollen, richtet sich an alle, die diesen Text lesen. Dennoch legen wir Wert darauf, hier so lange zu bleiben, wie die Situation weiter besteht.
Wir wissen nicht, ob es möglich ist, einen Infopunkt einzurichten. Aber es sieht so aus, als ob es notwendig ist, finanzielle und personelle Ressourcen zu organisieren und eine Rotation während der Woche zu gewährleisten, wenn diese Aktivität weitergeführt werden soll. Es scheint wichtig zu sein, dass mindestens zwei oder drei Personen täglich hier anwesend sind. Vor allem diejenigen, die verschiedene Sprachen sprechen können, um korrekte Informationen zu verbreiten.
No Border pazarkule/edirne